In meinem Roman Hinter dem Schein die Wahrheit geht es um Jugend in der konservativen Provinz. Da ist der schwule Jacob, der seine Homosexualität (noch) geheim halten will, aber von Schulkameraden verprügelt und geoutet wird. Wie wird er mit diesem Angriff fertig? Und wie reagieren seine Eltern, vor allem seine labile Mutter Karin, die sich seit jeher dem Druck gesellschaftlicher Zwänge beugt. Wie können ihre besten Freund*Innen aus Kindertagen helfen: Jacobs Patentante Annette, die als junges Mädchen unglücklich verliebt in Karin war. Und der einst schüchterne Waisenjunge Holger, der nur zu gut weiß, was es heißt, unter Gleichaltrigen ein Außenseiter zu sein?
Hier zwei kurze Textpassagen:
„Er presste das Tuch gegen die aufgeplatzte Augenbraue, und die Scham breitete sich in ihm aus wie ein schleichendes Gift. Was hatte er sich denn eingebildet? Wie hatte er nur darauf hereinfallen können und glauben, was da stand? Hätte er bloß auf seine innere Stimme gehört, die Alarm geschlagen hatte, die voll auf Abwehr gegangen war. Schließlich passte die Nachricht nicht zu Philipp. Er war nicht schwul. Eigentlich war er nicht einmal nett. Er war ein fieser Macho mit einer großen Klappe. Ein Fußballspieler. Jacob hasste Fußball, und trotzdem ging er seit Monaten immer wieder zum Sportplatz, wenn die A-Jugend spielte. Das war doch alles völlig bescheuert. Er begriff ja selber nicht, warum er sich ausgerechnet in Philipp …
Er seufzte. Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß. Eine üble Falle hatten sie ihm gestellt, und er war hineinspaziert wie in Trance. Welche Wahl hatte man denn, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand? Da konnte die innere Stimme warnen so viel sie wollte. Das Herz hörte eben schlecht, wenn es so wild vor sich hin pochte. Ein Blick in den Spiegel. Gel ins Haar. In Windeseile mit dem Rennrad die Hauptstraße entlang und aus dem Dorf hinaus. Ein Auto hupte ausdauernd, als er quer über die Straße in den Wald abbog, ohne es vorher anzuzeigen. Gerade noch pünktlich kam er am Weiher an, stapfte über die unebene Wiese, die von Wildschweinen umgepflügt worden war. Philipp erwartete ihn schon, und sie waren so allein, wie Jacob es sich immer erträumt hatte. Die Lichtung lag im Dämmerlicht, aus dem Wasser stieg der Abendnebel in die nasskalte Luft. Jacob strahlte, aber Philipp lächelte nur, lächelte auf eine fremde Weise, hart und kalt. Das Misstrauen keimte auf und wurde Gewissheit. Hier stimmte etwas nicht.
»Glaubst du wirklich, du kannst mir drohen?« Philipp winkte mit dem Arm in Richtung der Büsche, und seine beiden Kumpel vom TSV Eschenreuth traten heraus. Die zwei wohnten nicht im Dorf, Jacob kannte sie nur vom Fußballplatz, Nummer sechs und Nummer acht, wenn er sich richtig erinnerte. Jetzt gesellten sie sich an die Seite ihres Torwarts, und Jacob begriff, was kommen würde, war schon besiegt, bevor sie begannen, auf ihn einzuprügeln.
Fuck! Er warf das Halstuch auf den Boden und befühlte die Braue; ein dickes Ei, aber wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Sein linkes Auge war zugeschwollen, mit dem rechten schaute er sich um. Inzwischen war es schon ziemlich dunkel. Er musste hier weg, bevor der Wald auch noch das letzte Licht des Tages schluckte. Na los, steh auf, sagte er zu sich selbst. Das hier ist ein Kaff. Ein halbes Jahr noch, dann bist du achtzehn. Im nächsten Sommer hast du das Abi in der Tasche und kannst hier weg. […]
Er fasste in seine Jackentaschen. Das Portemonnaie war da und auch sein Schlüsselbund, aber wo war das Handy? Er fasste tiefer hinein und fand es nicht, prüfte die Innentasche – nichts. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. War das Handy herausgefallen oder …? Hektisch suchte er die umgewühlte Wiese ab, seine Finger ertasteten feuchte Blätter und verwittertes Holz, einen Kronkorken, einen Regenwurm, aber sein Handy nicht. Er suchte weiter und weiter, tastete, fluchte. Nahm das blutverschmierte Halstuch hoch, aber auch darunter kam das Handy nicht zum Vorschein. Er schleuderte das Tuch wieder weg.
O nein, nicht das Handy, dieses teure Teil mit dem schnellen Internet und dem großen Speicher! All seine Musik. All seine Bilder und Videos. DAS Video. Wenn sie ihm das Handy geklaut hatten, hätten sie ihn eigentlich auch gleich totschlagen können. Es war eingeschaltet, und sie würden nicht lange brauchen, um den Pin-Code zu erraten. Philipps Geburtsdatum. Keine sehr originelle Idee, aber wer hätte denn ahnen können, dass ausgerechnet Philipp mit seinen Freunden ihm das Ding wegschnappen würde. Vier Ziffern, dann konnten sie alles aufrufen. ALLES.“
„Die Strecke kannte sie genau, Berlin – Eschenreuth, vierhundert Kilometer nach Süden, kein allzu weiter Weg und doch jedes Mal die Reise in eine völlig andere Welt, dorthin, wo die Hügel, die Häuser und die Straßen alte Geschichten flüsterten. Wo die Blicke der früheren Nachbarn sich noch heute verfinsterten, wenn sie auf der Straße rauchte, so wie schon vor vierunddreißig Jahren, als sie sechzehn war. Wo die Männer kein Treffen der Reservistenkameradschaft versäumten und die Frauen nach der Messe das Mittagessen kochten, sobald sie nach Hause kamen. Alle Frauen. Auch Karin. Annette wäre am liebsten auf der Stelle umgedreht, als sie daran dachte. […]
Nach zweieinhalb Stunden auf der Autobahn rutschte die Tankanzeige in den roten Bereich. Es passte ihr nicht, die Fahrt unterbrechen zu müssen, aber sie hatte keine Wahl und setzte den Blinker, als die Ausfahrt zum Rasthof in Sicht kam. Erst als das Benzin durch den Zapfhahn lief, spürte sie, wie müde sie war, und sie stellte sich vor, wie Grit den Kopf schütteln würde und wie sie erfüllt wäre von bitterem Spott. Sie hatte Grit vertröstet wegen der Story über Georgia O’Keeffe. Einmal mehr keine Zeit wegen der Arbeit. Dagegen war nichts einzuwenden, und Grit hatte nichts eingewandt. Wie sollte sie ihr nun den plötzlichen Aufbruch erklären? Ein Notfall, gewiss. Aber irgendein Fall war es immer, wenn es um Karin ging, ein Ausnahmefall manchmal, ein spontaner Einfall hin und wieder, ein Rückfall zumeist. Was willst du da noch?, fragte Grit in eifersüchtigem Ton, und Annette konnte ihr keine Antwort darauf geben.
Einst war dieses Dorf ihr erschienen wie das tote Ende der Galaxis, und so war sie losgezogen ins Zentrum der Milchstraße, die von Mauern umgeben war. Von einer Sonne zur nächsten war sie gedüst, eine aufregende Zeit, wunderbar, grausam und dann wieder schön. Die Sonnen waren hell gewesen und heiß, aber dann hatten sie sich aufgebläht und waren verglüht, eine nach der anderen. Supernova. Sternenstaub.
Und das Dorf mit all seinen Menschen war immer noch da. Hier hatte sie laufen gelernt. Lesen gelernt. Lieben gelernt. Jaja, auch das.
Als sie das Benzin bezahlt hatte, verspürte sie ein dringendes Verlangen nach heißem Kaffee, fuhr ein paar Meter weiter und balancierte kurz darauf ihr Tablett zu einem Tisch am Fenster des Restaurants. Durch die regennassen Scheiben betrachtete sie das monotone Grau des herbstlichen Himmels in der Morgendämmerung. Sie zog den Deckel von einem winzigen Sahnetöpfchen und gab seinen Inhalt in den Becher, ließ eine zweite Portion folgen und rührte um. Sie trank einen kleinen Schluck, aber der Kaffee war noch viel zu bitter. So ging sie noch einmal zur Selbstbedienungstheke und griff erneut in den Korb mit der Sahne. Die Kassiererin, eine junge Frau mit einer langen blonden Mähne und einem Pferdegesicht, unterbrach die gelangweilte Prüfung ihrer Fingernägel und schaute auf. Es lag etwas Tadelndes in ihrem Blick. Ein Becher Kaffee und drei Portionen Sahne. Unmäßigkeit hieß das Wort, das ihr aus den Augen stach. Warum verwenden sie auch diesen Plastikmüll, dachte Annette, nahm den Korb in die eine Hand und wühlte mit der anderen darin, nahm Töpfchen für Töpfchen heraus und betrachtete die Bilder auf den Deckeln. Die Loreley legte sie ebenso zurück wie St. Bartholomä, aber Schloss Neuschwanstein wählte sie aus und den Hamburger Hafen, Nummer vier und fünf, die sie sicher nicht benötigte. Sie stellte den Korb zurück und lächelte die Kassiererin an. Das Pferd blähte die Nüstern.
Das Restaurant lag noch im Schlaf, aus dem Radio rieselte ein Hit des vergangenen Sommers aus unsichtbaren Lautsprechern in den Raum. […] Sie hatte sich das vielversprechendste Brötchen ausgesucht, aber auch das erwies sich als Reinfall. Dem pappigen Teig fehlte Salz, die Butter war viel zu dick aufgetragen, und bei näherer Betrachtung musste sie erkennen, dass der Käse sich an den Rändern schon nach oben bog, während er in der Mitte wabbelig war, aufgeweicht von der Tomatenscheibe, die dem traurigen Häppchen als Dekoration dienen sollte und ihm doch nur den Rest gab.
Das Brötchen schmeckte nicht. Nichts schmeckte ihr nach dieser viel zu kurzen Nacht. Jacob weg. Sollte sie sich nun sorgen, wie Karin es tat, oder sollte sie ärgerlich werden, weil der Junge mit seinem Verschwinden alles durcheinanderwirbelte? Es war schon merkwürdig, dass er nicht einmal ihr etwas gesagt oder geschrieben hatte. Waren ihre Besuche bei den Buceks zu selten geworden? […] Inzwischen spürte sie, dass er sich auch vor ihr verschloss, oder lag es nur an der Pubertät? Vielleicht hatte sie ihn in letzter Zeit zu wenig beachtet. All die Ereignisse, über die sie schrieb und die ihre Aufmerksamkeit forderten, Konzerte und Varietés, Vernissagen und Finissagen, Lesungen, Filmpremieren und Theaterabende, dazu all die privaten Verabredungen. Und Grit. In Berlin fand ihr Leben statt, ein Leben, von dem Jacob nicht viel mitbekam. Seine Nachrichten waren nur wenige von all jenen, die ihren elektronischen Briefkasten überschwemmten. Es blieb nicht viel Raum für einen Teenager. Dabei war es gerade mit einem Jugendlichen wie mit allem anderen auch. Man musste sich ihm ganz widmen oder gar nicht. Alles andere war Wischiwaschi, alles andere schadete nur.
Sie betrachtete den letzten Happen in ihrer Hand und seufzte. Sie sollte viel langsamer essen, sollte sich noch ein Brötchen kaufen und noch eines, egal, wie es schmeckte. Sie sollte sich einen riesigen Salat auftürmen, sich Rühreier von den Warmhalteplatten löffeln und das komplette Buffet in aller Ruhe verspeisen, nur um nicht dieser Ungewissheit entgegenfahren zu müssen. Was würde sein, wenn Karin recht behielte und wirklich etwas passiert war? Sie spürte es in jeder Zelle ihres Körpers. Nichts Gutes kam da auf sie zu.“